Meditation als Forschungsmethode

 

Anthroposophische Meditation kann als geisteswissenschaftliche Forschungsmethode klar durchschaut werden. Sie hellt die im gewöhnlichen Bewusstsein unbewusst lebenden Bereiche des Erkennens auf und führt zu einem immer bewussteren Erleben des Geistigen.

 

Vier Stufen der Meditation

 

Anthroposophische Meditation ist eine Forschungsmethode, die zu konkreten Erfahrungen und Erkenntnissen des Geistigen führt. Solche Erfahrungen sind von ganz anderer Art als die Erlebnisse des gewöhnlichen Bewusstseins, und doch sind sie im gewöhnlichen Erkennen immer mit enthalten. Sie werden nur normalerweise nicht bewusst erlebt, denn die geistigen Erlebnisse sind subtil und entziehen sich dem allzu gewollten Zugriff, während die Gegenstände des gewöhnlichen Erkennens (die Sinneswelt und abstrakte Gedanken) demgegenüber derb und geradezu aufdringlich erscheinen. Anthroposophische Meditation hat daher zum Ziel, dass sich der Meditierende selbst zum Erwachen gegenüber den unbemerkten Erlebnissen des gewöhnlichen Erkennens bringt.

Man kann durch anthroposophische Meditation die Inhalte des wachen Bewusstseins, Gedanken, Vorstellungsbilder, Gefühle und Sinnesempfindungen in ihrer geistigen Dimension erfahren. Denn in oder hinter diesen Inhalten lebt immer etwas Geistiges. Anthroposophische Meditation kann durch das Studium anthroposophischer Gedanken sinnvoll ergänzt werden. Man kann aus den Texten Rudolf Steiners solche Gedanken aufnehmen und dann durch meditative Bearbeitung und Vertiefung zu einem Erleben ihrer geistigen Wirklichkeit kommen. Umgekehrt ermöglichen solche Gedanken ein Verständnis der in der Meditation gemachten geistigen Erfahrungen. Studium und Meditation beleben und vertiefen sich gegenseitig, denn anthroposophische Gedanken stammen aus solchem Erleben und geistige Erlebnisse können zu solchen Gedanken verdichtet werden.

Für das Verständnis anthroposophischer Meditation ist die Gliederung des gewöhnlichen Erkennens in vier Stufen wesentlich. Rudolf Steiner unterschied 1. den Gegenstand, der sinnlich wahrgenommen wird; 2. das Bild, das man sich vom Gegenstand während das Wahrnehmens macht und das man danach erinnern kann; 3. den Begriff, der die Gesetzmäßigkeit des Gegenstandes verständlich macht; und 4. das Ich, ohne dessen wahrnehmende, bildschaffende, erinnernde und beurteilende Tätigkeit kein Erkennen zustande käme [1].

Im gewöhnlichen Bewusstsein wird nur der sinnlich wahrgenommene Gegenstand vollwach erlebt. Man achtet normalerweise wenig auf die Tätigkeit, durch die man sich ein erinnerbares Bild von ihm gestaltet, noch weniger auf das innerliche Erleben, das mit dem Verstehen einhergeht, und das erkennend tätige Ich wird meist ganz übersehen. Meditation soll dazu führen, die 2., 3. und 4. Stufe konzentriert und bewusst zu erleben.

 

 

Eine Übung als Beispiel

 

An einem Beispiel, einer kleinen Übung, kann verdeutlicht werden, was damit gemeint ist. Man zeichne sich ein Dreieck auf ein Blatt Papier. Es hat bestimmte Winkel, seine Seiten haben eine bestimmte Länge. Man befindet sich auf der Stufe des sinnlichen Wahrnehmens. Nun schließe man die Augen und stelle sich das Dreieck als ein inneres Bild vor. Das ist die 2. Stufe. Um die bildschaffende Tätigkeit möglichst bewusst zu erleben, bringe man die Vorstellung des Dreiecks nun in Bewegung, indem man erst einen, dann einen anderen Winkel vergrößert oder verkleinert, erst eine, dann eine andere Seite nach außen wandern lässt und wieder zurück, und schließlich mehrere zugleich, bis man das ganze Dreieck gleichsam verflüssigt (es bleibe aber immer ein Dreieck). Je langsamer, bewusster und konzentrierter die Verwandlungen vollzogen werden, umso besser für das Erleben der darin wirksamen, bildgestaltenden Tätigkeit. Hat man das eine zeitlang vollzogen, dann gehe man zur 3. Stufe über, indem man nun jede bildliche Vorstellung des Dreiecks aktiv beiseite schiebt, aber immer noch an ein ‚Dreieck’ denkt. Die Konzentration ist jetzt noch schwieriger aufrecht zu erhalten. Um den Inhalt festzuhalten, sprechen viele Menschen das Wort ‚Dreieck’ nun wiederholt innerlich vor sich hin. Man mache sich klar, dass man weiß, was mit dem Wort ‚Dreieck’ gemeint ist. Kann man erleben, wie man das weiß (ohne sich erneut Bilder zu machen)? Ein Hinweis Rudolf Steiners: Auf dieser Stufe sei das Erkennen vergleichbar einem geistigen Hören. Man mache sich selbst ganz leer und lausche gleichsam auf den geistigen Inhalt. – Schließlich gehe man noch den letzten Schritt und lasse auch den Gedanken an das ‚Dreieck’ weg und tauche ganz ein in das bild- und wortlose Wesen. Diese Stufe ist zunächst nur für ganz kurze Momente erlebbar. „In dem Moment, wo sie auftritt, ist sie auch schon wieder entschwunden“ (Rudolf Steiner).

Auf der 4. Stufe fällt alles Äußere ab; man fühlt sich außerhalb von Raum und Zeit, eins mit der Sache, überall. So wie das Wesen des Dreiecks keinen Ort und keine Zeit hat, so hat auch das Ich weder Ort noch Augenblick – und es existiert doch. Es gibt auf dieser Stufe nichts mehr, woran man sich festhalten könnte. Deshalb ist es auch so schwer, sie bewusst zu erleben. Dringt man zu ihr vor, dann erlebt man die innere Einheit des Seins. Rudolf Steiner bezeichnete deshalb das menschliche ‚Ich’ als einen „Tropfen aus dem Meere des Geistigen, das die ganze Welt durchdringt“. Auf der vierten Stufe wird das zum Erlebnis.

 

 

Imagination, Inspiration und Intuition

 

Das bewusste Erleben auf den drei höheren Erkenntnisstufen wurde von Rudolf Steiner mit den technischen Begriffen ‚Imagination’ (geistig-gestaltendes Bilderleben), ‚Inspiration’ (geistiges Hören) und ‚Intuition’ (wesenhaftes Einssein mit der Sache) bezeichnet. In der Imagination gestaltet man aus inneren, geistigen Erlebnissen Bilder, die diese Erlebnisse ausdrücken und durch die sie anschaubar werden. Die Erlebnisse selbst sind geistige Einsichten in Zusammenhänge, die als Inspirationen erlebt werden. Sie quellen aus dem hingebenden Miterleben, aus dem intuitiven Untertauchen in andere geistige Wesen hervor. Ausführliche und sehr klare Darstellungen dieser Erkenntnisstufen findet man in Rudolf Steiners Schrift ‚Die Stufen der höheren Erkenntnis’. (Die oben dargestellte Übung gibt nur das Prinzip dieser höheren Erkenntnisstufen an. Ihre vollgültige Ausbildung verlangt eine tiefgreifende Umwandlung des seelischen Lebens. Siehe hierzu Steiners Schrift 'Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?".)

 

 

Erkenntniswissenschaftliche Bestimmung

 

Wenn man diese Dinge verstehend durchdringen und sie in weitere Zusammenhänge bringen möchte, kann es außerordentlich hilfreich sein, sich klar zu machen, welche Seelenfähigkeiten auf den vier Erkenntnisstufen vornehmlich beteiligt sind und welches Verhältnis zwischen Betrachter und Gegenstand, zwischen Subjekt und Objekt auf diesen vier Stufen besteht. 

Auf der 1. Stufe des sinnlichen, gegenständlichen Anschauens stehen sich der Betrachter als Subjekt und das betrachtete Objekt getrennt gegenüber: Hier bin ich, dort das Ding. Als Seelenfähigkeit ist das Wahrnehmen der Sinne bestimmend. Auf der 2. Stufe ist das bildhafte Vorstellen die bestimmende Seelenfähigkeit. Wie die Dreiecksübung zeigte, verhält sich das Subjekt im Vorstellen nicht nur betrachtend, sondern auch erzeugend. Es stellt etwas vor (sich hin). Aus meiner vorstellenden Tätigkeit entsteht ein vorgestelltes Bild, das ich aber immer wieder tätig erneuern bzw. verändern kann und muss. Subjekt und Objekt schwingen hier ineinander über. Wir haben es mit einem Wechselspiel von Gestalt und Gestaltung zu tun.

Auf der 3. Stufe ist es, genau besehen, ein Fühlen oder wissendes Empfinden, das mir das Bewusstsein der Bedeutungen des Erkannten vermittelt. Ich weiß eben, noch vor allem Ausdruck in Worten und Bildern, was gemeint ist. Es ist mein Fühlen, aber was ich (er)fühle, ist nicht subjektiv. Subjekt und Objekt treten hier in einen gemeinsamen Innenraum ein, leben ineinander. Dennoch ist es ein Wissen von einem anderen, noch nicht dieses andere in aller Unmittelbarkeit selbst. Rudolf Steiner nannte dieses Wissen eine ‚Offenbarung’ des anderen Wesens. Erst auf der 4. Stufe der Intuition wird man mit diesem anderen ganz eins. Das kann nur so geschehen, dass das Ich das andere in völliger Selbstlosigkeit willentlich hervorbringt. Indem ich einen Gedanken hervorbringe, bin ich am Ursprungsort dieses Hervorbringens mit ihm in allen Winkeln und Fasern eins.

 

(Christoph Hueck)


[1] Rudolf Steiner: Die Stufen der höheren Erkenntnis. GA 12, Dornach 1979.